“- Man fragt dann aber auch danach, ob die Wahrheit erkannt werden könne, um eine Rechtfertigung dafür zu finden, daß man in der Gemeinheit seiner endlichen Zweck fortlebt. Mit solcher Demut ist es dann nicht weit her. Solche Sprache: wie soll ich armer Erdenwurm das Wahre zu erkennen vermögen?, ist vergangen; an deren Stelle ist der Dünkel und die Einbildung getreten, und man hat sich eingebildet, unmittelbar im Wahren zu sein. - Man hat der Jugend eingeredet, sie besitze das Wahre (in der Religion und im Sittlichen) schon, wie sie geht und steht. Insbesondere hat man auch in dieser Rücksicht gesagt, die sämtlichen Erwachsenen seien versunken, verholzt und verknöchert in der Unwahrheit. Der Jugend sei die Morgenröte erschienen, die ältere Welt aber befinde sich im Sumpf und Morast des Tages. Die besonderen Wissenschaften hat man dabei als etwas bezeichnet, das allerdings erworben werden müsse, aber als bloßes Mittel für äußere Lebenszwecke. Hier ist es also nicht Bescheidenheit, welche von der Erkenntnis und vom Studium der Wahrheit abhält, sondern die Überzeugung, daß man die Wahrheit schon an und für sich besitze. Die Älteren setzen nun allerdings ihre Hoffnung auf die Jugend, denn sie soll die Welt und die Wissenschaft fortsetzen. Aber diese Hoffnung wird nur auf die Jugend gesetzt, insofern sie nicht bleibt, wie sie ist, sondern die saure Arbeit des Geistes übernimmt. Es gibt noch eine andere Gestalt der Bescheidenheit gegen die Wahrheit. Dieses ist die Vornehmheit gegen die Wahrheit, die wir bei Pilatus sehen, Christus gegenüber. Pilatus fragte "was ist Wahrheit?" in dem Sinne dessen, der mit allem fertig geworden ist, dem nichts mehr Bedeutung hat, - in dem Sinn, in welchem Salomon sagt: "alles ist eitel". - Hier bleibt nur die subjektive Eitelkeit übrig. Ferner noch steht der Erkenntnis der Wahrheit die Furchtsamkeit entgegen. Dem trägen Geist fällt leicht ein, zu sagen: so sei es nicht gemeint, daß es mit dem Philosophieren Ernst werden solle. Man hört so wohl auch Logik, aber diese soll uns so lassen, wie wir sind. Man meint, wenn das Denken über den gewöhnlichen Kreis der Vorstellungen hinausgehe, so gehe es zu bösen Häusern; man vertraue sich da einem Meere an, auf dem man von den Wellen des Gedankens da- und dorthin geschlagen werde und am Ende doch wieder auf der Sandbank dieser Zeitlichkeit anlange, die man für nichts und wieder nichts verlassen habe. Was bei solcher Ansicht herauskommt, das sieht man in der Welt. Man kann sich mancherlei Geschicklichkeiten und Kenntnisse erwerben, ein routinierter Beamter werden und sich sonst für seine besonderen Zwecke ausbilden. Aber ein anderes ist es, daß man seinen Geist auch für das Höhere bildet und um dasselbe sich bemüht. Man darf hoffen, daß in unserer Zeit ein Verlangen nach etwas Besserem in der Jugend aufgegangen ist und daß diese sich nicht bloß mit dem Stroh der äußeren Erkenntnis begnügen will.”
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