1) Und sind wir nicht heute “postmodern” in einer Situation, in der ein “protestantischer” Glaube an die Nicht-Erkennbarkeit Gottes uns einen Subjektivismus beschert hat, der uns geradewegs regrediert auf die magischen Beschwörungen der “Neger”, “Ägypter”, “Griechen” und “Katholiken”? Sicher hatte Luther recht: Die magische Beschwörung der Weihe der Hostie (durch priesterliche Autorität) ohne das konstituierende Moment des (subjektiven) Glaubens verfehlt ganz und gar die Befreiungslehre Christi. - Darum tobte der ganze 30-jährige Religionskrieg; Reformation und Gegenreformation.-. Aber nun, in vollendeter Freiheit, wie sie dem Individuum als “Sei du Selbst” aufgegeben ist, ist ebenso die Selbstbeweihräucherung aufgetragen, als der ultimative “Geniesse!”-Befehl, der ein postdogmatisches, inhaltsfreies “Sapere aude” nicht etwa nur zulässt, sondern anordnet und unerbittlich verlangt. Die leere Freiheit hat die Erlaubnis “Du darfst!” unmittelbar in ihr Gegenteil verwandelt: “DU Musst selbst entscheiden!” nämlich “frei!” Nicht nur ohne jegliche dogmatische oder logische Substanz, sondern zwangsläufig dem “Sei du selbst!”-Befehl entsprechend, gegen jegliche Dogmatik und Logik. (Als “Fremdbestimmtes”).
Das ist die Bewegung, die in der “Leere der Lehre” statt hat und die die Moderne in die schamanistische Primitivität zurückgeführt hat. Was z.B. leichtsinnig als “Qual der Wahl” ausgesprochen werden kann ist in der Tat die tragische Situation des modernen Subjekts, das dem Über-Ich-Befehl “Sei du-selbst”-”Geniesse!” bedingungslos unterstellt ist. Dieser Befehl ist nicht etwa schwer erfüllbar, sondern er ist unmöglich zu erfüllen. Nicht etwa kann sich das Subjekt diesem Ideal der Freiheit nur schwerlich annähern, sondern jeder konkrete Versuch einer solchen annähernden Erfüllung ist nicht nur jeweils zum Scheitern verurteilt, sondern als “konkret” immer schon zum Scheitern verurteilt. (Je mehr es sich müht, desto schlimmer: Man mag es kaum sagen[weil´s ja jeder “weiss”]: Ein “Teufelskreis”)
Nur insofern lässt sich von “Postmoderne” reden: Die Moderne war christlich- patriarchaisch modern, dogmatisch, traditionalistisch. Die wahre Moderne, “Postmoderne”, ist damit fertig. Das erst ist ewige Moderne: unbedingt als “Querdenker” zu sein. Das erst ist die Anpassungsform des “Sei du selbst!”, die dieses neue Über-Ich permanent-unendlich erzwingt, mit der unbedingten Voraussetzung, nicht nur, dass es unerreichbar ist, sondern das jede Bemühung des Erreichens darum, die Schuld des Scheiterns unmittelbar erhöht.
Darum ist das Komische aller Mühen des Subjekts und seines Scheiterns wirklich tragisch.
2) In gewisser Weise spiegelt der heutige oberflächliche Begriff des Tragischen die wahre Tragik unsere post-tragischen Welt schon wider: Der Unfall, die Katastrophe, das durch Verbrechen bewirkte Leid, ja selbst der natürliche Tod und die Krankheit gelten in journalistischer Manier als „tragisch“. Die Moderne verliert den Begriff des Tragischen, die Postmoderne ist dieser Verlust. Wenn in der griechischen Kunst der Komödie die Maske fällt und der wahre Akteur, der Schauspieler, darunter hervorlugt, dann stellt sich das befreiende Lachen ein und wir, das Publikum, fühlen uns „sauwohl“ (wie Hegel sich ausdrückte). Wie in unseren Zeiten in der frühkindlichen Entwicklung beim Da-Weg-Spiel, wie es S.Freud beobachtet und analysiert hat, amüsiert sich das erwachende Subjekt, das Kind, beim wechselseitigen Erscheinen und Verschwinden der Substanz, der Maske und der Person, die diese Substanz (wieder herbei) trägt. Das ist komisch. (Übrigens dem Kitzeln nicht unähnlich, das schon die Mütter bei Primaten betreiben, um Entwöhnung durch freundliche Distanz von ihrer mütterlichen Substanz zu trainieren.) Die wirkliche Substanz, die das Subjekt tatsächlich ist, nennt Hegel „wahre Sittlichkeit“. Diese sieht er in den antiken griechischen Stämmen, den Stadtstaaten realisiert. Und hier fand die Tragödie statt in beiderlei Sinne: Einmal die wahre Tragödie als tödliches Drama und unausweichliches Schicksal in der Konfrontation zweier widersprüchlicher Gesetze, dessen Harmonie die Gesellschaft der wahren Sittlichkeit an sich (aber noch nicht für sich) ausmacht. Das göttliche Gesetz ist hier das Gesetz der Familie, das unterirdische Gesetz, das unausgesprochen insofern und insoweit herrscht, als es absolut und unbedingt, göttlich eben, gilt. Das andere ist das menschliche Gesetz, das Gesetz der demokratischen Polis, der freie Staat, der nicht zuletzt die Ordnung bildet, die das Leben der Familien, die er substantiell ist (an sich*) gewährleistet. Der tragische Konflikt dieser ursprünglichen Sittlichkeit in seinen beiden Formen ist uns bis heute nicht nur zufällig noch präsent. Insbesondere S,Freuds Ödipüskomplex und damit die Psychoanalyse überhaupt erbringen den Beweis der Wahrheit Hegels in seiner Rede von „wahrer Sittlichkeit“. Diese substantielle Schicht phylogenetischer Substanz ist aufgehoben. Sie existiert als Phase der Kindheit (ontogenetisch) und beim Erwachsenen als Neurose. Oder in der Sprache der grossen Gegenbewegung und abstrakten Aufhebung des schönen Heidentums der Griechen, in der jüdischen Monotheistischen Gesetzesreligion, als „Sünde“. (Freud selbst konnte Hegel so nicht lesen, Lacan konnte es fast, und S.Zizek gelingt es, soweit ich das beurteilen kann – ganz im Gegenteil zur von Zizek so genannten Pseudo-psychoanalyse der Dekonstruktivisten oder J.Kristevas.) Die weibliche Seite in der Tragödie, die Hegel auch betrachtet, ist Antigone. Sie folgt dem Gesetz der Familie und heiligt den Bruder, indem sie ihn beerdigt. Der andere Sinn der Tragödie der wahren Sittlichkeit ist der schon ironische, der sozusagen tragische Untergang der Tragödie selbst, den die Substanz dieser Sittlichkeit erleidet. Weil die Stadtstaaten partikulare, also bestimmte Totalitäten sind, sind sie endlich. Weder können sie Kriege vermeiden, die sich aus dem rächenden Furor der verletzenden Überschreitungen gegen das unterirdische („weibliche“, wie Hegel sagt) Gesetz ergeben, noch die erzieherische Tyrannei der (männlichen) Helden des menschlichen Gesetzes. Mit der Komödie betreten die Philosophen die Bühne der Geschichte und keine Hinrichtung, auch nicht die des Sokrates, kann den Untergang der antiken Sittlichkeit verhindern. Die wahre und schöne freie Gemeinschaft versinkt im römischen Reich und entlarvt sich sowohl vor den Augen der Barbaren, als vor den Augen der monotheistischen jüdischen Religion als das, was sie auch immer war: eine Sklavenhaltergemeinschaft.
* Zur logischen Form: Dieses Ansich ist als sittliche Substanz die Wirklichkeit des Wesens, der Geist. Dieses Ansich ist Für-Sich-Sein, reflektiertes Sein, das als Gemeinschaft lebendige Allgemeinheit praktiziert. Sie ist in der Entfremdung, Bildung und Aufklärung untergegangen. Deshalb ist dieses Ansich ein Fürsich, wie es das fürsichseiende Bewusstsein betrachtet. (- In der Aufklärung ist uns die von der Renaissance reflektierte Antike, wie sie im Römischen Reich und von den muslimischen Gelehrten reflektiert wurde.) Diese Reflexion der Reflexion ist eine Errungenschaft der Aufklärung.
(Manfred.Herok ©2009)
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